Altersvorsorge: «Nach­hal­ti­ge Lö­sun­gen ha­ben es im ta­ges­po­li­ti­schen Ge­schäft äus­serst schwer»

14. September 2020 | Interviews
Gehört im Ranking der NZZ zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz: Christoph Schaltegger. Printscreen YouTube-Video Uni Luzern.

In einem Punkt sind sich (fast) alle einig: In der Altersvorsorge besteht dringender Handlungsbedarf. Wie die Reformen jedoch konkret ausgestaltet und umgesetzt werden sollen, daran scheiden sich die Geister. Warum sich unser Land mit der Stabilisierung beziehungsweise der Modernisierung der Altersvorsorge so schwer tut und wie mögliche Lösungsansätze aussehen könnten, erläutert Christoph Schaltegger, ordentlicher Professor und Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern.

Interview: Daniel Schreiber für Schweizerischen Versicherungsverband SVV

Herr Schaltegger, lassen Sie uns mit der Aktualität beginnen: Die Coronakrise hat massive Auswirkungen auf verschiedenste Gesellschaftsbereiche. Auch auf die Altersvorsorge?

Mit Sicherheit. Wir wissen zwar noch nicht, wie schwerwiegend die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise sein werden, der Arbeitsmarkt wird aber so oder so betroffen sein. Eine höhere Arbeitslosigkeit hat zur Folge, dass die Lohnbeiträge sinken – und das wiederum wirkt sich negativ auf unsere Altersvorsorge aus.

Dabei gäbe es doch auch sonst schon genügend Herausforderungen: Gemäss den aktuellsten Zahlen des «SVV Sicherheitsmonitors» wähnt sich ein Drittel der Schweizer Bevölkerung vorsorgemässig alles andere als abgesichert. Überrascht Sie das?

Nein, tut es nicht. Der Handlungsbedarf im Bereich der Altersvorsorge ist längst ausgewiesen. Schon seit Mitte der 1990er-Jahre ist das Thema immer wieder Gegenstand des politischen Prozesses. Besonders die finanzielle Lage der AHV verschlechtert sich zusehends.

Gehört im Ranking der NZZ zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz: Christoph Schaltegger.

Weil wir immer älter werden …

Genau. Die demografischen Ursachen dieser Entwicklung sind bekannt: tiefe Geburtenrate und steigende Lebenserwartung. Die Herausforderung akzentuiert sich in den nächsten Jahren, wenn die sogenannten Babyboomer das Rentenalter erreichen. Das Ungleichgewicht zwischen Rentnern und Erwerbstätigen wird sukzessive ansteigen.

Und das bedeutet?

Wir sind heute nicht nur gesünder, sondern leben auch immer länger. Das ist erfreulich, führt aber auch dazu, dass wir unser heutiges Leistungsniveau auf lange Sicht nicht halten können. Entweder müssen wir die Leistungen kürzen oder an der Finanzierungsseite etwas ändern – oder eine Kombination von beidem.

Die Bevölkerung scheint das Problem erkannt zu haben, auf politischer Ebene geht es trotzdem kaum vorwärts. Woran liegt das?

Die Leute in der Schweiz sind gut informiert und realistisch genug, um zu verstehen, dass nur schon das Beibehalten des Leistungsniveaus langfristig immer teurer wird. Dass die Politik bis jetzt keine passende Lösung präsentieren konnte, scheint auf den ersten Blick eigenartig – mich überrascht das jedoch nicht.

«Rentenpolitik wirkt generationenübergreifend, wird aber im üblichen ‹Kuhhandel› innerhalb der heutigen Generationen betrieben.»

Warum scheitert die Politik bei diesen wichtigen Fragen?

Ökonomen sprechen in diesem Fall von Zeitinkonsistenz. Rentenpolitik wirkt generationenübergreifend, wird aber im üblichen «Kuhhandel» innerhalb der heutigen Generationen betrieben. Am Entscheidungstisch sitzen nur die heutigen Generationen. Nachhaltige und generationenübergreifend ausgewogene Lösungen haben es daher im tagespolitischen Geschäft äusserst schwer. Lieber schiebt man die Finanzierung der Sozialversicherungen auf und belastet zukünftige Steuer- beziehungsweise Beitragszahler.

Weil alle nur ihre eigenen Interessen verfolgen?

Das ist das eine Problem. Das andere ist der Abnützungskrieg, der im Zusammenhang mit der Altersvorsorge herrscht. Dies sehen wir insbesondere bei der AHV, die sich unter anderem durch eine starke Umverteilungswirkung charakterisiert. Es gibt somit Leute, die mehr in das System einzahlen als sie letztlich zurückbekommen – und umgekehrt. Wenn nun über Reformen der AHV diskutiert wird, hoffen natürlich beide Seiten, dass die andere Seite zukünftig einen grösseren Teil der Last übernimmt. Mit dieser Einstellung werden wir jedoch noch lange auf eine erfolgreiche Reform warten. Wir alle müssen bereit sein, etwas zur zukünftigen Lösung beizutragen.

Ist eine Erhöhung des Rentenalters für Frau und Mann unausweichlich?

Wenn eine Gesellschaft das Rentenalter 64/65 für sakrosankt erklärt, so ist das zwar grundsätzlich möglich, aber meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Ein solcher Entscheid müsste allein durch zusätzliche Finanzierungsaufwendungen realisiert werden – nur so wäre die demografische Entwicklung aufzufangen. Ziel müsste es aber meiner Ansicht nach sein, eine Opfersymmetrie zu finden. Das bedeutet, dass wir sowohl bei der Leistung als auch bei der Finanzierung gewisse Anpassungen vornehmen müssen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Beim gegenwärtigen demografischen Trend ist es notwendig, dass auch das Rentenalter angehoben wird.

Wäre denn der Arbeitsmarkt auf eine solche Massnahme vorbereitet?

Davon bin ich überzeugt. Die älteren Arbeitnehmenden sind äusserst gut in den Arbeitsmarkt integriert. Die Arbeitsmarktbeteiligung der älteren Bevölkerung steigt seit Jahren an und ist im internationalen Vergleich sehr hoch. In den nächsten Jahren wird die demografische Entwicklung zudem zu einer spürbaren Verknappung des Arbeitskräfteangebots führen, was der Nachfrage nach älteren Arbeitskräften zusätzlichen Schub verleihen dürfte.

Aber wollen wir wirklich arbeiten, bis wir irgendwann zu alt und zu schwach sind, um den Ruhestand geniessen zu können?

Diese Sorge ist verständlich, aber unbegründet. Dank steigendem Wohlstand und medizinischem Fortschritt ist die Lebenserwartung in der Schweiz im Laufe des 20. Jahrhunderts stark gestiegen. Die Menschen werden aber erfreulicherweise nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger gesund. Das Alter 65 stellt keine Schwelle dar, an der gesundheitliche Probleme bemerkbar zunehmen würden.

«Es spricht viel dafür, den Renteneintritt flexibel zu gestalten.»

Der «SVV Sicherheitsmonitor» sagt, dass rund 53 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung einen Anreiz darin sehen, länger zu arbeiten, wenn die Möglichkeit bestünde, das Arbeitspensum schrittweise zu reduzieren. Ist das realistisch?

Es spricht viel dafür, den Renteneintritt flexibel zu gestalten. Möglicherweise müssen einfach die Profile auf dem Arbeitsmarkt angepasst werden.

Was meinen Sie damit?

Während die physische und die kognitive Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt schon in relativ jungen Jahren erreichen, steigen Faktoren wie Erfahrungswissen, Führungskompetenz und Beurteilungsvermögen über die Lebenszeit an. Anders formuliert: Jüngere sind flink, flexibel und methodisch up to date. Die älteren Arbeitnehmenden bringen dafür mehr Erfahrungswissen mit. Auch hier gilt aber: Wenn man will, dass die Teilzeitarbeit über das offizielle Rentenalter hinaus attraktiv bleibt, muss man entsprechende Anreize setzen.

Laut «SVV Sicherheitsmonitor» wünschen sich 38 Prozent der Bevölkerung, dem Kapitaldeckungsverfahren in der Altersvorsorge mehr Gewicht zu geben, derweil 26 Prozent dem Umlageverfahren aus der AHV den Vorzug geben. Haben weiterhin beide Systeme ihre Berechtigung?

Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Wenn man die Systeme sauber trennt, kann man die spezifischen Eigenheiten sauber darlegen und ausbalancieren. Von einer Vermischung der beiden Systeme rate ich hingegen ab: Wenn man zum Beispiel anfängt, innerhalb des Kapitaldeckungsverfahrens einen Umverteilungsmechanismus zu integrieren, führt dies zu Intransparenz. Solche Wirkungen sind auch für die politische Steuerbarkeit schwierig und enttäuschungsanfällig.

In der Theorie scheinen sich viele Spezialisten einig über das zu sein, was es bräuchte, um die Altersvorsorge wieder gesunden zu lassen. In der Realpolitik scheiterten jedoch viele Versuche an den politischen und den gesellschaftlichen Gräben. Es braucht mittlerweile für jeden Schritt in die richtige Richtung ein «Geschenk» zugunsten der Gegenpartei. Ist die Altersvorsorge in diesem Kontext überhaupt noch zu retten?

Das ist ein Problem in der Schweiz. Heute bringt man fast kein politisches Anliegen mehr ohne Gegengeschäfte durch. Das ist ein Stück weit normal, wird aber dann zum Problem, wenn dabei völlig unterschiedliche Themen miteinander vermischt werden. Solche Gegengeschäfte haben eine präjudizierende Wirkung, was dazu führt, dass künftig niemand mehr bereit ist, einen Entscheid mitzutragen, ohne selbst ein Zückerchen dafür zu erhalten. Dadurch droht ein politischer «Bazar», der nicht mehr seriös ist und auf lange Sicht die Politik blockiert.

Zur Person: Christoph Schaltegger ist ordentlicher Professor für Politische Ökonomie und Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Luzern. Darüber hinaus lehrt er auch an der Universität St. Gallen zum Thema öffentliche Finanzen. Schaltegger ist im diesjährigen Ranking der NZZ auf Platz drei der einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Er gehört zu den wenigen Wirtschaftsprofessoren, die regelmässig Stellung zu konkreten politischen Sachfragen nehmen.



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