Eine ausgewogene Revision, eine zeitgemässe Grundlage

17. Juli 2020 | Gastbeiträge
Bild: Master Tux auf pixabay

Mit der Teilrevision ist das Versicherungsvertragsgesetz VVG an die heutigen Anforderungen angepasst worden. Es stärkt die Rechte der Versicherten in vielerlei Hinsicht und ermöglicht eine dem digitalen Zeitalter angepasste Vertragsabwicklung.

Gastkommentar von Franziska Streich *

Und dann kam die Coronakrise. Der Lockdown machte es notwendig: Die Schlussabstimmung vom 19. März 2020, an der die Verabschiedung der Teilrevision des Versicherungsvertragsgesetz VVG angesetzt war, wurde verschoben.

Das Vorhaben, das Gesetz aus dem Jahr 1908 an die heutigen Anforderungen anzupassen, war vor fast 20 Jahren lanciert worden. Für die Versicherungsbranche gehört das Versicherungsvertragsgesetz VVG zu den zentralen Gesetzeswerken. Es regelt das Vertragsverhältnis von Kundin oder Kunde zum Versicherer im Bereich der privaten Versicherungen. Eine erste Teilrevision setzte die vordringlichsten Konsumentenschutzanliegen per 2006/2007 um. Dazu gehörten die Informationspflicht – der Versicherer musste den Versicherten über den wesentlichen Vertragsinhalt informieren – ebenso wie eine Minderung der Folgen einer Anzeigepflichtverletzung. In einem nächsten Schritt wollte der Bundesrat das Gesetz mit einer Totalrevision erneuern. Doch im Jahr 2013 lehnte das Parlament den Vorschlag ab. Stattdessen beauftragte es den Bundesrat, eine schlanke Teilrevision zu erarbeiten. Sie sollte auf die wichtigsten Punkte beschränkt bleiben. Der Bundesrat eröffnete drei Jahre später (2016) die Vernehmlassung. Die Vorlage schlug bei rund drei Viertel des VVG Anpassungen vor und war damit näher an einer Total- denn einer Teilrevision.

Im Jahr 2017 stellte der Bundesrat die Botschaft zur Teilrevision vor. Die Vorlage besann sich auf die bei der Rückweisung der Totalrevision im März 2013 geäusserten Anliegen. Sie sah sachgerechte Anpassungen vor. Formal war das Gesetz in eine übersichtlichere Struktur gegossen. Dennoch stand die Teilrevision in der Kritik. Der öffentliche Diskurs überdeckte, dass verschiedene Verbesserungen des Versichertenschutzes unbestritten waren. Dazu gehören ein Kündigungsrecht, das «Knebelverträge» verhindert, oder der Wegfall der Genehmigungsfiktion, die den Versicherungsnehmer benachteiligt.

Der Nationalrat behandelte als Erstrat das Geschäft im Mai 2019 in einer Sondersession. Über weite Strecken folgte er dem Vorschlag des Bundesrates. Er nahm aber auch diverse Anpassungen vor, die Konsumentenschutzorganisationen gefordert hatten. Medial fokussierte sich die Diskussion auf den Artikel 35, der bei Anpassungen der Versicherungsbedingungen ein Kündigungsrecht vorsah. Kritiker befürchteten, dass unter diesem Artikel Vertragsanpassungen möglich gewesen wären, die unter dem geltenden Recht nicht zulässig sind. Der Nationalrat strich den Artikel, womit das geltende Recht beibehalten wird. Im September 2019 folgte der Ständerat im Wesentlichen der Vorarbeit des Erstrates, schuf aber dennoch einige wichtige Differenzen. Zu den zwischen den beiden Kammern umstrittenen Punkten gehörten unter anderem die Fragen der Sanktionen bei Anzeigepflichtverletzung oder der Nachhaftung in der Krankenzusatzversicherung. Das neugewählte Parlament strich diese beiden vom Schweizerischen Versicherungsverband SVV abgelehnten Punkte in der Differenzbereinigung. Es hielt dagegen an zwei neuen Bestimmungen im Haftpflichtbereich fest, für deren Streichung sich der Branchenverband der Privatversicherer ebenfalls eingesetzt hatte: eine Einredebeschränkung bei der obligatorischen Haftpflichtversicherung und ein allgemeines direktes Forderungsrecht in der Haftpflichtversicherung. Die letzten Differenzen bereinigten Ständerat und Nationalrat noch in der Frühlingssession vor deren Abbruch. Sie hatten damit eine zeitgemässe ausgewogene Gesetzesanpassung vorgenommen. In der Schlussabstimmung der Sommersession am 19. Juni 2020 verabschiedete das Parlament schliesslich die Teilrevision des VVG. Sie bedeutet unter anderem folgende wichtigen Neuerungen:

1. Einführung eines Widerrufsrechts für die Versicherungsnehmer von 14 Tagen

Versicherte können innerhalb einer Bedenkfrist von vierzehn Tagen von ihrem Vertrag zurücktreten.

Was das in der Praxis heisst …

Eine Versicherte schliesst eine Motorfahrzeugversicherung ab. Ein paar Tage später ändert sie ihre Meinung. Sie kann sich ohne Verpflichtung aus dem Vertrag zurückziehen.

2. Ordentliches Kündigungsrecht nach drei Jahren für beide Vertragsparteien

Versicherte können auch bei Verträgen mit langer Laufzeit den Vertrag auf das Ende des dritten Jahres beenden. Damit werden auch «Knebelverträge» abgeschafft.

Was das in der Praxis heisst …

Ein Versicherter schliesst einen Vertrag für fünf Jahre ab. Nach drei Jahren kann er sich aber trotzdem zurückziehen. Er muss nicht die abgemachte Vertragsdauer von fünf Jahren abwarten.

3. Kündigungsverzicht der Krankenversicherer

Das neue ordentliche Kündigungsrecht und das Kündigungsrecht im Schadenfall stehen nur den Versicherten zu. Diese Regelung spiegelt die heutige Praxis der Versicherungen.

Was das in der Praxis heisst …

Der Krankenzusatzversicherer darf nach einem Leistungsbezug den Vertrag nicht kündigen.

4. Verlängerung der Verjährungsfrist von zwei auf fünf Jahre

Ansprüche aus Versicherungsverträgen verjähren neu erst fünf Jahre nach dem Schadenfall anstatt wie bisher nach zwei Jahren.

Was das in der Praxis heisst …

Der Versicherte kann seinen Anspruch bis zu fünf Jahre nach dem Eintritt des Ereignisses, das die Leistungspflicht begründet (zum Beispiel den Bruch einer Glasscheibe), geltend machen.

5. Kompatibilität des VVG mit dem elektronischen Geschäftsverkehr

Der E-Commerce ist über die ganze Wertschöpfungskette hinweg möglich. Auch Kündigungen können somit in Textform eingereicht werden.

Was das in der Praxis heisst …

Neu ist neben der Schriftform (mit Unterschrift) auch eine Kündigungserklärung in elektronischer Textform möglich, zum Beispiel per E-Mail.

6. Einführung eines allgemeinen direkten Forderungsrechtes für alle Haftpflichtversicherungen

Ein Geschädigter oder eine Geschädigte kann damit seine, respektive ihre Ansprüche direkt bei der Versicherung des Schädigers geltend machen, obwohl der Versicherungsvertrag nicht mit ihm, sondern mit dem Haftpflichtigen abgeschlossen worden ist.

Was das in der Praxis heisst …

Der Geschädigte kann direkt die Haftpflichtversicherung des Schadenverursachers belangen. Wenn beispielsweise der Versicherte die Fensterscheibe seines Nachbarn mit einem Fussball einschlägt, kann der Nachbar neu seinen Anspruch direkt gegenüber der Versicherung geltend machen.

*Franziska Streich ist lic. iur. und Rechtsanwältin. Als Fachverantwortliche Recht im Schweizerischen Versicherungsverband SVV begleitet sie seit 20 Jahren die Revision des Versicherungsvertragsgesetzes VVG für den Branchenverband.


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