Erzwungene Flugzeuglandung in Minsk: Wer zahlt für die Folgen?

4. Juni 2021 | Aktuell
Die Präsidenten von Russlands und Belarus: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko

Die List des weissrussischen Diktators Lukaschenko sorgt für weltweite Empörung. Der Westen verhängt Sanktionen, doch Putin und sein Vasall Lukaschenko sind nur voller Spott und Häme. Luftverkehrs-Expert*innen sehen den Beginn einer gefährlichen Entwicklung.  

Nach erzwungener Landung einer Ryanair-Linienmaschine am 23. Mai in Minsk, der Festnahme des weissrussischen Bloggers Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapega, beides Passagiere, beschlossen die EU-Staaten bei einem Treffen in Brüssel Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik. Der planmässige Flug von Athen nach Vilnius in Litauen wurde unterwegs unter dem Vorwand einer vorgetäuschten Bombenwarnung sowie einem bewaffneten Kampfjet über Minsk zur Landung gezwungen. Europa reagiert schnell und entschlossen: Unter anderem sollen sowohl Luftraum wie Flughäfen der EU für belarussische Fluggesellschaften gesperrt werden und die Fluggesellschaften der Europäischen Union nicht mehr über Belarus fliegen. Weitere Massnahmen werden diskutiert, die Präsidenten Russlands und Belarus reagieren spöttisch.  

Während fast die ganze westliche Welt geschlossen gegen die Machenschaften Lukaschenkos einsteht, wird Moskau in den kommenden Wochen Belarus mit einem Kredit von 500 Millionen Dollar unterstützen. Dies wurde anlässlich des Treffens des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor einigen Tagen in Sotschi vereinbart. 

Sanktionen: Waffe oder Strohfeuer?

Zusätzlich zu den Luft- und Flughafensperren der EU wurden Wirtschaftssanktionen sowie eine Ausweitung der Liste mit Personen und Unternehmen beschlossen, gegen die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten. Die Vereinten Nationen haben eine Untersuchung der von Belarus erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk eingeleitet

Selbst die nicht direkt betroffenen USA verhängen Sanktionen gegen Belarus und werden noch diese Woche Strafmassnahmen gegen neun Weissrussische  Staatsunternehmen wieder in Kraft setzen. Zusätzlich bereitet die US-Regierung in Absprache mit der EU Sanktionen gegen Verantwortliche im Umfeld des belarussischen Präsidenten vor. Diese werden ab 3. Juni in Kraft treten. Die Wiedereinführung der früheren Strafsanktionen hatte die US-Regierung bereits im April angekündigt, damals noch vor dem Hintergrund des brutalen Vorgehens der belarussischen Behörden gegen oppositionelle Demonstranten.

Doch die Sanktionen gegen den bisher in dieser Form nicht gekannten Verstoss wider internationale Verträge, Gesetze und das Völkerrecht zeigen nur beschränkt Wirkung. Frankreich hatte seinen Luftraum am 26. Mai für Belavia-Flüge, die Staatsairline von Belarus, gesperrt. Russland reagierte prompt und sperrte wiederum  seinen Luftraum für französische Maschinen. Die Air France berichtete bereits am gleichen Tag von einem Flug Paris – Moskau, welcher aus «betrieblichen Gründen im Zusammenhang mit der Umgehung des Belarussischen Luftraums» sowie der Pflicht einer «neuen Genehmigung der russischen Behörden zur Einreise in ihr Hoheitsgebiet» gestrichen werden musste.

Die meisten Airlines machen inzwischen einen weiten Bogen um den belarussischen Luftraum einen weiten Bogen, darunter auch die Lufthansa, der die SWISS gehört. Nach der Annullierung von Lufthansa-Flügen nach Russland aufgrund fehlender Genehmigungen der Moskauer Behörden, reagiert die deutsche Bundesbehörde mit Gegenmassnahmen. Vorerst sollen keine Airlines aus Russland mehr über die Bundesrepublik fliegen.

Betroffene Passagiere: Reicht die übliche Geschäftsreiseversicherung?

Das kriminelle Verhalten von Belarus wurde so von niemandem erwartet und entsprechend dessen wirtschaftliche Folgen von Versicherern vertraglich nicht explizit in die Verträge aufgenommen. Über eine klassische Geschäftsreiseversicherung, zum Beispiel von der Europäischen Reiseversicherung ERV, dem grössten Anbieter in diesem Bereich, können Reisen in Länder und Regionen, welche vom Eidgenössischen Departement für Äusseres EDA abgeraten werden, mitversichert werden, thebroker berichtete. Mit der Travel Admin App des EDA kann man sich schnell informieren, doch es fehlen (Stand 1. Juni) Reisewarnungen der Behörden für die nun betroffene Region. Sollte eine Reisende oder ein Reisender während einer Geschäftsreise in einem Krisenfall beispielsweise erkranken, sind die Heilungs- und Behandlungskosten sowie die unplanmässigen Mehrkosten mitversichert. Eine Geschäftsreiseversicherung erlaubt es den Arbeitgebenden ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Arbeitnehmenden grundsätzlich jederzeit nachzugehen. Doch der Fall Minsk wirft ganz neue Fragen auf.

Haftet die Fluggesellschaft?

Wenn ein Flug seitens der Fluggesellschaft, zum Beispiel aufgrund einer behördlichen Verfügung, annulliert oder umgeleitet wird, ist nach Transportgesetz die Fluggesellschaft erstattungspflichtig. Doch fällt die erzwungene Landung in Minsk unter die bestehenden Bestimmungen? Gegenüber thebroker zeigten sich die angefragten Fachleute unsicher. «Anders sieht es aus, wenn die Kundin oder der Kunde von Unruhen im Ausland überrascht wird und deshalb eine vorzeitige Rückreise notwendig ist», sagt Jan Kundert, CEO bei ERV. Dieser Fall sowie die Verletzung und ärztliche Repatriierung einer Kundin oder eines Kunden bei Ausschreitungen – mit Ausnahme der aktiven Teilnahme – sind versichert. Neben Jahresversicherungen auch bei Policen für einzelne Reisen, solche sind bereits ab 29 Franken zu erhalten.  

Und sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen

Auch wenn vom verbrecherische Akt des belarussischen Regimes wohl finanziell wenig oder keine finanziellen Schäden für Schweizer*innen sowie hiesige Unternehmen bekannt sind, können Versicherungen und Fluggesellschaften nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Der einmalige Vorfall dürfte kaum einmalig bleiben. Gesperrte Lufträume, Zwangslandungen, Anschlussausfälle, Passagiere- und Frachtverzögerungen oder gar Personenentführungen – wie in Minsk geschehen – scheinen für Russland und seinen Verbündeten offenbar neue Normalität geworden zu sein, die Wiederholungen und Nachahmungen geradezu auf den Plan rufen dürfte. Denn Sanktionen, so zeigt es sich immer deutlicher, bestrafen nicht nur den Täter, sondern betreffen nur zu oft auch die Wirtschaft der «Opfer».

Reisende, vorläufig vor allem Richtung Osten, tun gut daran, sich im Vorfeld mit ihrer Versicherung und der Fluggesellschaft über allfällige Haftungsprobleme abzusprechen. Das EDA selbst ist beim Irrsinn Belarus bisweilen hilflos.

Binci Heeb


Tags: #Alexander Lukaschenko #Europäische Reiseversicherung ERV #Roman Protassewitsch #Ryanair #Sanktionen