Explodierende Gesundheitskosten: Was kann und was muss sich die Schweiz leisten
6. November 2024 | Aktuell Allgemein InterviewsAm 24. November 2024 stimmt das Schweizer Volk über die einheitliche Finanzierung von ambulanter und stationärer Medizin (EFAS) ab. Die Meinungen bezüglich eines Prämienwachstums- oder einer -schrumpfung gehen weit auseinander. Sicher ist nur, dass die Krankenkassenprämien im nächsten Jahr um durchschnittlich 6 Prozent steigen werden. In einem Interview mit der NZZ am Sonntag hat Felix Schneuwly von Comparis von einem erheblichen Einsparpotenzial insbesondere bei grossen Kassen gesprochen. Die Gesundheitskommission des Nationalrats plant Managerlöhne zu begrenzen.
thebroker spricht mit dem Gesundheitsexperten und Präsident des Bündnisses Freiheitliches Gesundheitswesen Felix Schneuwly welche Massnahmen effektive Einsparungen bringen würden.
Welche potenziellen Vor- und Nachteile sehen Sie in der einheitlichen Finanzierung von ambulanter und stationärer Medizin?
Der Vorteil ist, dass die Ambulantisierung nicht mehr einseitig mit Prämien finanziert wird. Der Nachteil ist, dass die Kantone noch mehr Planwirtschaft fordern, obwohl diese in den letzten Jahren bloss die Bürokratie aufgebläht, den Fachkräfte-, Medikamenten- und Medizinalproduktemangel verschärft hat.
Wie entwickeln sich die Prämien Ihrer Meinung nach weiter, wenn die einheitliche Finanzierung eingeführt wird?
Zuerst ist festzuhalten, dass die drei letzten Prämienschocks mit plus 6.6 Prozent (2022/23), 8.7 Prozent (2023/24) und 6 Prozent (2024/25) nichts mit den steigenden Kosten zu tun haben, sondern mit dem politisch erzwungenen Reservenabbau, weil nach jedem massiven Reservenabbau und zu tiefen Prämien Prämienschocks folgen. Vor Alain Berset haben schon Pascal Couchepin und Ruth Dreifuss diesen Fehler gemacht. Dass die Politik nicht aus Fehlern lernt und dass die Medien nicht genau hinschauen, ist ein Skandal.
Ohne diese vermeidbaren Prämienschocks wären die Prämien in den letzten Jahren um etwas unter 3 Prozent pro Jahr gestiegen. Mit EFAS sind 2,5 Prozent realistisch. EFAS ist notwendig aber kein Wundermittel. Wichtig für eine wirksame Kostendämpfung ohne Rationierung sind zwei Dinge: Erstens muss in den Tarifverträgen genau festgelegt werden, wie die Kassen Rechnungen kontrollieren müssen, damit sie nur noch wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin bezahlen, wie es das KVG seit der Inkraftsetzung 1996 verlangt. Zweitens müssen für sachgereichte Tarife – auch das verlangt das KVG seit 1996 neben den «anrechenbaren Kosten» auch die Indikationsqualität und erreichte Therapieziele eine Rolle spielen, damit es für überflüssige und schlechte Medizin kein Geld mehr gibt.
Sind die hohen Ausgaben für Werbung und Marketing der Krankenversicherer aus Ihrer Sicht gerechtfertigt? Welche Alternativen gäbe es?
Deckelungen sind grundsätzlich problematisch. Das gilt für gedeckelte CEO- und Ärzte-Löhne ebenso wie für die Ausgaben der Kassen im Bereich der Kundenakquisition. Kaum haben die Kassen mit einem nun vom Bundesrat legalisierten Kartell die Vermittlerprovisionen gedeckelt, wird die Deckelung der Werbeausgaben oder gar ein Werbevorbot verlangt. Die Verwaltungskosten insgesamt müssen gemäss Aufsichtsgesetz «wirtschaftlich» sein. Jeder Versicherer muss die Freiheit haben, selber zu entscheiden, wo er investiert, um konkurrenzfähig zu sein. Dank ihrer Wahlfreiheit entscheiden die Versicherten, welche Versicherer erfolgreich sind und welche nicht. Keine versicherte Person muss bei einer Kasse bleiben, die dem CEO zu viel bezahlt oder die zu viel Geld für Neukunden ausgibt. All die gut gemeinten Deckel sind Mikromanagement, das bloss die Bürokratiekosten aufbläht und die Ausgaben in nicht gedeckelte Bereiche verlagert.
Schädlich ist übrigens auch die Vermittlerregulierung der Eidgenössische Finanzmarktaufsicht Finma. Das ist Bürokratie als Kollektivstrafe für alle Versicherungsvermittler. Wirksamer und weniger bürokratisch wäre es, wenn die Finma Vermittler, die sich nicht an die Gesetze halten und Leute über den Tisch ziehen, die Akkreditierung entziehen würde. Genau das hat die Finma noch nie gemacht.
Wie wirkungsvoll sind die gesetzlichen Massnahmen zur Beschränkung der Verwaltungskosten und Managergehälter tatsächlich?
Dank ihrer Wahlfreiheit entscheiden die Versicherten, welche Versicherer erfolgreich sind und welche nicht. Keine versicherte Person muss bei einer Kasse bleiben, die dem CEO zu viel bezahlt oder die zu viel Geld für Neukunden ausgibt. All die gut gemeinten Deckel sind Mikromanagement, das bloss die Bürokratiekosten aufbläht und die Ausgaben in nicht gedeckelte Bereiche verlagert. Google, Facebook und andere Konzerne profitieren davon, nicht die Versicherten.
Glauben Sie, dass eine Einheitskasse wirklich zu einer signifikanten Reduktion der Verwaltungskosten führen würde?
Ich glaube gar nichts, orientiere mich an Fakten. Comparis hat im Frühling die Versicherten befragt. Über 70 Prozent wollen eine Einheitskasse und damit mindestens 10 Prozent Prämien sparen. Das ist angesichts der Verwaltungskosten von 4.9 Prozent der Prämien nicht realistisch. Deshalb wollen auch über 70 Prozent der Befragten die Einheitskasse in einem Kanton testen und mit dem Kassenwettbewerb im Rest der Schweiz vergleichen. Mit diesen Testergebnissen würde ich einer fünften Einheitskassenabstimmung ganz entspannt entgegensehen.
Welche konkreten Massnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen halten Sie für am effektivsten?
Von links bis rechts reden seit Jahren alle von den falschen Anreizen, die beseitigt werden müssen. Seit 2012 wurde unter dem Gesundheitsminister Alain Berset genau das Gegenteil gemacht. Einzige Ausnahmen ist der verbesserte Risikoausgleich. Wie schon gesagt, brauchen wir in den Tarifverträgen klare Bestimmungen über WZW-konforme Zulassungen zum Pflichtleistungskatalog sowie Rechnungskontrollen und die Vergütung der Behandlungserfolge, damit sich endlich Effizienz und Qualität mehr lohnen als Mengen. In den alternativen Versicherungsmodellen (AVM) mit mittlerweile fast 80 Prozent der Versicherten gibt es schon gute Voraussetzungen dafür. Etwas mehr Handlungsspielraum für die AVM-Vertragspartner wären hilfreich, z.B. für die Versicherten freiwillig wählbare Mehrjahresverträge, mehr Spielraum und weniger Diplomfetischismus beim Einsatz der Gesundheitsfachpersonen sowie bei den Pflichtleistungen und bei der Prämienkalkulation.
Wie bewerten Sie die Entscheidung der Krankenkassen (CSS und Helsana), sich über Tochtergesellschaftenn an spezialisierten Spitex-Organisationen zu beteiligen?
Man kann nicht die Rollenkonflikte der Kantone kritisieren und sich dann als Versicherer mit Beteiligungen an Leistungserbringerfirmen selber in ähnliche Rollenkonflikte verstricken. In AVM mit einer Qualitäts- und Kostenverantwortung machen Beteiligungen der Kassen an medizinischen Versorgungsnetzwerken Sinn.
Könnten die steigenden Kosten der Angehörigenpflege tatsächlich zu einer signifikanten Erhöhung der Krankenkassenprämien führen?
Nicht die Kosten und Prämien sind das Hauptproblem, sondern die Rollenkonflikte der Angehörigen. Ich möchte für die Pflege meiner Frau nicht bezahlt werden, weil wir uns als Paar nicht von Dritten für unsere gegenseitige Unterstützung bezahlen lassen sollten, denn wer bezahlt, der befiehlt auch.
Sehen Sie alternative Modelle, die Angehörigenpflege fair zu entlohnen, ohne die Krankenkassenprämien stark zu belasten?
Ja, wer Angehörige pflegt, sollte Pflegegutschriften bekommen, um später den eigenen Pflegebedarf ganz oder teilweise decken zu können. Auch steuerliche Entlastungen halte ich für prüfenswert.
Was halten Sie von der Schliessung von unrentablen Spitälern und der grösseren Konzentration auf Kompetenzzentren?
Das war ja die Idee der 2012 in Kraft gesetzten neuen Spitalfinanzierung. Leider haben die Kantone nicht effizient arbeitenden Spitälern die Defizite gedeckt. Wer aber glaubt, die Spitalkrise mit noch mehr Plan- und Subventionswirtschaft beenden zu können, irrt sich, weil mittlerweile der Fachkräftemangel der limitierende Faktor ist und nicht die immer noch reichlich fliessenden Steuergelder an defizitäre Spitäler. Und wir alle müssen uns bei der Nase nehmen, denn wir unterstützen dieses System immer wieder, wenn wir wählen und abstimmen. Wir brauchen Kosten- und Qualitätstransparenz, weil nichts teurer ist als schlechte und überflüssige Medizin. Auf der Basis dieser Transparenz sollen die Kantone ihre Leistungsaufträge mindestens national oder noch besser international ausschreiben, damit die tatsächlich besten Spitäler die Zuschläge bekommen. Wenn unter diesen Voraussetzungen in einer abgelegenen Gegend die Versorgung gefährdet ist, soll der Kanton mit Steuergeldern die von der Bevölkerung gewünschte Versorgung nach dem Grundsatz – wer bezahlt, befiehlt – sicherstellen.
Die weltweit besten medizinische Versorgung soll es in Ländern wie Schweden, Japan und Singapur geben. Welche Scheibe, bei diesen Ländern, wenn überhaupt, könnten sich die Schweizer Krankenkassen abschneiden?
Die gesetzlichen Rahmendedingungen dieser Länder sind sehr unterschiedlich. Die medizinische Versorgung ist in den Industrieländern günstiger, wo individuelle Präferenzen weniger berücksichtigt werden und Wartezeiten länger sind als in der Schweiz. Die hiseige Bevölkerung hat bisher jeden Systemwechsel in Richtung mehr Staat oder mehr Markt abgelehnt, auch am 9. Juni. Einzig der Stärkung der Komplementär- und Hausarztmedizin sowie der Pflege wurde mit jeweils deutlichen Mehrheiten zugestimmt. Wenn wir also den Volkswillen respektieren, müssen wir den regulierten Wettbewerb gemäss KVG stärken und die Anreize für die individuelle Finanzierung der Pflege im Alter stärken. In den Bereichen Altersrenten und Gesundheit versprechen uns zu viele Politiker:innen Versorgungssicherheit mit dem Geld anderer. Dass sie die Zeche bezahlen werden, haben die jüngeren Generationen noch nicht begriffen.
Das Thema «Eigenverantwortung» steht hoch im Kurs. Was halten Sie von der Idee des Sanitas-CEO das System von Singapur anzuwenden, wo die Bürger für sich selbst sparen, um die medizinische Versorgung zu finanzieren und bei gesundem Lebensstil Geld zurückzuerhalten?
Auf unser System bezogen würde das eine lebenslange Franchise an der Stelle der Jahresfranchise bedeuten. Die Idee ist wie alle Ideen, welche Eigenverantwortung und Solidarität im Gleichgewicht fördern, prüfenswert. Weil die Franchisen in den letzten Jahren nicht dem Kosten- und Prämienwachstum angepasst worden sind, haben sie ihre Wirkung verloren und das Gleichgewicht ins Wanken gebracht.
Eine hypothetische Frage zum Schluss: Wenn Sie entscheiden und das ganze Gesundheitssystem nach Ihren Vorstellung von Grund auf neu aufbauen könnten, was würden Sie tun?
Ich würde die schädlichen, planwirtschaftlichen KVG-Reformen der letzten 12 Jahre streichen, zurück zum regulierten Wettbewerb gehen, von den Tarifpartnern in den Bereichen WZW und Qualitätstransparenz klare vertragliche Lösungen verlangen und den AVM-Vertragspartnern mehr unternehmerische Freiheit geben, damit sich Effizienz und Qualität der versicherten medizinischen Leistungen mehr lohnen als Mengen. Dann müssten die Leute, die sich freiwillig für die Standardgrundversicherung mit direktem Zugang zu Spezialärzten, Spitalnotfällen und Mehrfachuntersuchungen wesentlich höhere Prämien bezahlen.
Felix Schneuwly, 64, lic. phil I / Executive MBA, studierte nach einer Lehre als Sanitär-Installateur in Courtaman (Kanton Freiburg) und der Matura in Bern an der Uni Freiburg/Fribourg Psychologie, Berufsberatung und Journalistik, arbeitete danach in Bern als Geschäftsführer für die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) sowie für den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) mit einer berufsbegleiteten Weiterbildung zum Executive MBA, danach in Solothurn und Bern als Leiter Politik und Kommunikation für den Verband der Schweizer Krankenversicherer santésuisse. Seit 2011 ist er Leiter Public Affairs und Krankenversicherungsexperte beim Internetvergleichsdienst comparis.ch AG in Zürich.
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