Irrglauben und Volksmärchen im Strassenverkehr

1. Februar 2021 | Aktuell
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Sie sind so verbreitet wie falsch: Volksmärchen über Fussgänger, welche im Strassenverkehr bei einem Unfall als schwächstes Glied immer Recht haben. Oder solche, dass der Öffentliche Verkehr immer Vorfahrt hat.

In den vergangenen Dekaden sind die Schweizer Strassen spürbar sicherer geworden. Anfang der 1970er-Jahre haben sich jährlich 20’000 Personen im Strassenverkehr schwer oder tödlich verletzt. Heute sind es noch 3’800. 2019 starben dort pro Jahr laut Bundesamt für Statistik 178 Personen. Noch immer viel zu viel. 50 Prozent der schweren Autounfälle sind Kollisionen, am häufigsten verursacht von Vortrittsmissachtungen durch Autolenker, Velofahrern und Fussgängern.

Die entsprechenden Gesetzesbestimmungen und Artikel der Strassenverkehrsordnung sind deutlich, aber bisweilen schwer lesbar. thebroker bemüht sich, sie so gut wie möglich verständlicher zu machen. Doch die wichtigsten Regeln finden sich nicht in Paragraphen: Sie heissen Rücksicht und Vernunft.

Volksmärchen Nr. 1: Fussgänger haben immer Vortritt

Die staatliche beauftragte Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu weist eindringlich auf die Gesetzesbestimmungen hin, dass Fussgänger am Fussgängerstreifen ihr Vortrittsrecht nicht erzwingen dürfen, wenn ein Fahrzeug bereits so nahe ist, dass es ohne scharfes Abbremsen nicht mehr rechtzeitig anhalten könnte. Der Fussgänger hat auf Geschwindigkeit und Abstand eines sich nähernden Fahrzeugs zu achten. Betritt er trotzdem die Fahrbahn, liegt die Haftung bei einem allfälligen Unfall auf seiner Seite. In einem Bundesgerichtsurteil vom 1. Juni 2015 wurde ein Autofahrer trotz Unfalls freigesprochen, der nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, als ein erwachsener Fussgänger überraschend den Fussgängerstreifen betrat

Aber Achtung: Automobilisten und Velofahrern muss allerdings klar sein, dass Fussgänger nicht erst Vortritt haben, wenn sie sich bereits auf dem Zebrastreifen befinden, sondern schon auf dem Trottoir stehend klar ersichtlich ihre Querungsabsicht zeigen. Lenkerinnen und Lenker haben dann rechtzeitig die Geschwindigung zu reduzieren und anzuhalten.

Zu den Aufgaben des Fussgängers gehört wiederum überall, auch fern jedes Zebrastreifens, unmissverständlich diese Absicht anzuzeigen, indem vor dem Betreten der Strasse einen Halt einlegt und in die Richtung möglicher Verkehrsteilnehmer auf Rädern schaut. Handzeichen sind nicht (mehr) obligatorisch, aber schaffen zusätzliche Sicherheit. Um jedes Missverständnis auszuschliessen, sollte sich der Fussgänger nur dann direkt am Kopf eines Fussgängerstreifens aufhalten, wenn er die Fahrbahn tatsächlich betreten will. Durch das Bundesgerichtsurteil vom 2. Mai 2016 wurde ein LKW-Fahrer freigesprochen. Hier betrat ein Bauarbeiter überraschend die Fahrbahn wenige Meter abseits des Fussgängerstreifens und wurde von einem Lastwagen erfasst. Am 19. September 2018 sprach das Bundesgericht einen PKW-Lenker frei. Sein Auto erfasste den Musik hörenden Fussgänger, der die Fahrbahn sechs Meter vor einem Fussgängerstreifen unvermittelt betrat.

Bei Verkehrs- oder Mittelinseln, die den Fussgängerstreifen in zwei Teile trennen, gilt jeder einzelne Teil des Übergangs als «selbständiger Streifen». Somit muss der Fussgänger, wenn er die Mittelinsel erreicht, erneut sicherstellen, dass seine Vortrittsbedingungen auch für den folgenden Teil des Übergangs erfüllt sind.

Volksmärchen Nr. 2: Wer mit dem Wagen von hinten auffährt, ist immer schuld.

In den meisten Fällen ist die Schuldfrage bei Auffahrunfällen schnell geklärt: Der Auffahrende ist schuld. Doch gibt es gar nicht selten Ausnahmen. Zum Beispiel, wenn bei dichtem Verkehr Massenkollisionen entstehen und die beteiligten Fahrzeuge ineinander geschoben werden. Hier bedarf es umfangreiche Abklärungen von Polizei und Gericht. Der Fahrer des vordersten Fahrzeugs ist nur dann schuldlos, wenn er nicht – ohne dass es die Verkehrsverhältnisse erfordern – plötzlich abrupt abbremst und so den Unfall provoziert. Man spricht von einem Schikanestopp.

Volksmärchen Nr. 3: Fahrradfahrer haben immer Vortritt.

Im Gegensatz zum Auto- oder Motorradverkehr gab es in den letzten Jahren keinen Rückgang bei schweren Velounfällen. Laut BfV sterben dabei weiterhin jährlich 25 Menschen, rund 840 verletzen sich schwer. Der Anteil beteiligter Elektrovelos steigt jährlich. Die Anzahl Senioren, die dabei ihr Leben verlieren, ist bis 5 mal so hoch. Ihre Verletzlichkeit ist höher, oft fehlt auch die Erfahrung im Umgang mit den elektrifizierten Zweirädern. Die Mehrheit der Unfälle lässt sich auf Verhaltensfehler zurückführen. Unaufmerksamkeit und Ablenkung spielen dabei eine zentrale Rolle. Wer zum Beispiel auf dem Fahrrad seine SMS liest, telefoniert oder mit Kopfhörer laute Musik hört, muss deshalb mit empfindlichen Bussen rechnen.

Ursache von Velounfällen sind je zur Hälfte Kollisionen sowie Selbst- und Schleuderfahrten. Kollisionen ereignen sich am häufigsten an Kreuzungen. In einem Drittel der Fälle ist der Hauptverursacher eines Velounfalls der Velofahren selber. Bei Dunkelheit schützt helles und vor allem auch eingeschaltetes Licht am Fahrrad, eine gute Ausrüstung, helle oder signalfarbige Kleidung sowie eine Leuchtweste. 

Auch wenn es einige Velofahren nicht einsehen wollen: Gesetzesregeln gelten für alle. Übertretungen sind keine Kavaliersdelikte, die zunehmend strengen Polizeikontrollen nötig, nicht Schikane. Unsere Strassen sind immer noch hauptsächlig für PKW ausgelegt, Velofahrer sind das schwächste Glied. Lösung könnte die Verbesserung der Veloweg-Sicherheit sein.

Volksmärchen Nr. 3: Tram und Bus haben immer Vortritt

Wie sagt der Basler Volksmund? «Grüne Farbe ist teuer.». Gemeint ist damit die Lackierung von Tram und Bus der Rheinstadt. In Zürich wäre es blau, in Bern rot. Bei einer Kollision mit einem öffentlichen Verkehrsmittel liegt der Fehler – so die weit verbreitete Meinung – meist beim Automobilisten. Streichen und Reparatur von Tram oder Bus sind in der Regel sehr teuer. Doch die Schuld liegt keineswegs immer beim Individualverkehr.

Kein allzu grosser Diskussionsspielraum besteht beim Tram. Hier spricht der Gesetzgeber von «schienengebundenem Verkehr» und dieser hat nun einmal zu Recht immer Vortritt. Ausnahmen gibt es bei Lichtsignalen. Identische Regeln gelten für Trolleybussen, aber nur für sie. Denn ganz anders sieht es bei normalen ÖV-Bussen aus, diese haben sich an die genau gleichen Strassenverkehrsordnung zu halten, wie alle anderen Verkehrsteilnehmer. Einzige Ausnahme: Einreihen in den Verkehr beim Verlassen offizieller Haltestellen. Doch auch hier nur nach vorgängigem Blinkzeichen. Gilt Kreisverkehr, muss auch der ÖV-Bus selbst bei Rechtsvortritt auf eine Lücke zur Einfahrt warten. Bei Nichtbeachtung bezahlen die Verkehrsbetriebe den teuren Lack und nicht die Versicherung des involvierten Fahrzeuglenkers.

Volksmärchen sind Märchen. Und Märchen sind vor Gerichten an der Tagesordnung, doch spätestens dort verlieren sie ihren Charme. thebroker rät, auf das Gesetz, statt auf Hörensagen zu vertrauen. Gerade im Strassenverkehr geht es nicht vordringlich um Versicherungsprobleme, sondern viel zu oft um Schaden an Leib und Leben. Wobei die Schwächsten keineswegs immer Recht haben, doch fehlt ihnen beim Unfall eine schützende Kühlerhaube.     

Binci Heeb


Tags: #Strassenverkehr #Volksmärchen