Antidepressiva an erster Stelle
16. Mai 2022 | Aktuell InterviewsEine neue Publikation des Schweizerische Gesundheitsobservatorium OBSAN 2021 stellt fest, dass Psychopharmaka die am häufigsten bezogenen Medikamente in der Schweiz sind. Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika/Sedativa sowie Medikamente bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstorung ADHS stehen dabei im Fokus.
thebroker.ch spricht über die Studie mit Frau Professor Dr. Annette Brühl, Chefärztin des Zentrums für Affektive, Stress- und Schlafstörungen ZASS und des Zentrums für Alterspsychiatrie ZAP an der Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK in Basel und Professorin für affektive Störungen an der Universität Basel.
Frau Professor Brühl, wie lange sind Sie Professorin/Chefärztin an der Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK in Basel?
Seit 1. August 2020 bin ich Professorin für affektive Störungen an der Universität Basel und Chefärztin an den UPK Basel, seit Januar 2021 stellvertretende Klinikdirektorin der Klinik für Erwachsene der UPK.
Sie stehen für eine offene Psychiatrie, wie sie dort praktiziert wird und was ist darunter zu verstehen?
Die Psychiatrie ist eine medizinische Disziplin, die sich auf Menschen mit psychischen Erkrankungen spezialisiert und diesen zu helfen versucht. Dabei stehen intensive therapeutische Angebote, eine offene und freundliche therapeutische Haltung, eine therapeutische Beziehung und hohe fachliche Professionalität im Vordergrund. Insbesondere durch Beziehungsangebote, die darauf hinzielen, es dem Patienten zu erleichtern, Hilfe anzunehmen, durch Vertrauen und Verlässlichkeit, werden Zwangsmassnahmen und Freiheitsbeschränkende Massnahmen wie geschlossene Abteilungen deutlich reduziert bis sogar überflüssig. Untersuchungen aus den UPK zeigen, dass solche restriktiven Massnahmen keinen Einfluss auf Suizidversuche, Suizide und Entweichungen haben. Im Gegenteil scheinen geschlossene Türen sogar das Stationsklima derart zu beeinflussen, dass Entweichungen zunehmen.
Also zusammengefasst: Wenn wir den Patienten mit einer guten therapeutischen Beziehung, die auf Vertrauen und Verlässlichkeit beruht und dem Patienten zugewandt ist, begegnen, reduzieren wir Risiken viel besser als durch restriktive Massnahmen. Dieser Ansatz, der an den UPK durch Prof. Undine Lang, die Klinikdirektorin der Klinik für Erwachsene eingeführt wurde, wird heute in der Schweiz und auch Deutschland in immer mehr Kliniken etabliert und ist sehr zukunftsträchtig, da dadurch der Zugang zur Psychiatrie verbessert, das Stigma der Psychiatrie und von Menschen mit psychischen Problemen reduziert und die Behandlungsqualität verbessert wird.
Erstaunt es Sie, dass Psychopharmaka zu den am häufigsten bezogenen Medikamenten in der Schweiz gehören?
Ja und nein…
Zu diesem Befund tragen mehrere Faktoren bei: Einerseits liegt hier aus meiner Sicht ein statistisches Phänomen vor: Die Gruppe der Psychopharmaka ist recht gross, so dass hier sehr verschiedene Medikamente in der Analyse zusammengefasst sind. Das reicht von Schlafmitteln über Beruhigungsmittel zu Medikamenten gegen Depressionen, gegen Psychosen bis hin zu Medikamenten zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen oder auch ADHS. Wenn man in der Statistik alle Medikamente, die gegen einen erhöhten Blutdruck und Herzerkrankungen helfen, in eine Gruppe zusammenfassen würde, wäre diese Gruppe wahrscheinlich an der ersten Stelle.
Andererseits sind psychische Erkrankungen sehr häufige Erkrankungen (bis zu 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung leiden jedes Jahr an einer psychischen Erkrankung), so dass das auch mit hohen Verordnungszahlen einhergeht (selbst wenn nicht alle diese psychischen Probleme medikamentös behandelt werden). Zusätzlich werden, wie auch in dem OBSAN Report beschrieben, Medikamente aus der Gruppe der Psychopharmaka nicht nur für manifeste psychische Erkrankungen verschrieben, sondern sie haben auch Wirkungen bei anderen Erkrankungen. So können verschiedene Antidepressiva auch bei Schmerzerkrankungen eingesetzt werden, um die Verarbeitung von Schmerzen zu unterstützen und damit den Einsatz von eigentlichen Schmerzmitteln zu reduzieren. Wie in dem OBSAN Bericht dargestellt, spielt es auch eine Rolle, dass es zunehmend Forschungsergebnisse gibt, die den Einsatz von bestimmten Medikamenten, insbesondere Antidepressiva, bei Kindern und Jugendlichen unterstützen, so dass hier auch eine Ausweitung der Patientengruppe vorliegt.
Sieht es im ganzen DACH-Raum so aus?
In Deutschland sieht es sehr ähnlich aus. Für Österreich habe ich keine ähnlichen Statistiken gefunden.
Was genau sind Psychopharmaka und was bewirken sie?
Psychopharmaka sind Medikamente, die auf das Gehirn einwirken und damit psychische Funktionen beeinflussen. In der Hauptsache handelt es sich um Medikamente zur Behandlung psychischer Erkrankungen wie Antidepressiva (gegen Depressionen und Angststörungen), Medikamente zur Stabilisierung der Stimmung, Antipsychotika (gegen psychotische Erkrankungen wie Schizophrenie), Beruhigungsmittel und Schlafmittel, Medikamente zur Behandlung von Demenzen, Medikamente zur Behandlung von ADHS und andere.
Neben dem grossen Nutzen von Psychopharmaka gibt es auch etliche Nebenwirkungen. Können Sie die grössten benennen?
Bestimmte Psychopharmaka bewirken eine Steigerung des Appetits und damit meist eine Gewichtszunahme. Anderen Psychopharmaka, insbesondere Beruhigungsmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine, haben ein Abhängigkeitspotential. Manche Antidepressiva können bei Männern zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Ansonsten gibt es bei verschiedenen Psychopharmaka Nebenwirkungen, die unangenehm, aber nicht gefährlich sind, wie z.B. Mundtrockenheit. Diese Nebenwirkungen treten aber nur auf, während die Medikamente eingenommen werden. Wenn sie in Rücksprache mit der verordnenden Ärztin/Arzt abgesetzt werden, bilden sie sich rasch zurück.
Die internationale – und zum Teil Schweizer – Literatur zeigt, dass Verordnungen sowie Bezüge von Psychopharmaka generell in bestimmten Altersgruppen über die Jahre zugenommen haben. Nennen Sie bitte die Gründe dafür.
Wie bereits gesagt: Bei Kindern und Jugendlichen gibt es immer noch Versorgungsengpässe. Das heisst, dass Betroffene eigentlich behandelt werden sollten, aber lange auf einen Behandlungsplatz warten müssen. Dadurch, dass es mittlerweile mehr Therapiemöglichkeiten gibt, haben die Verschreibungen in dieser Altersgruppe zugenommen. Zudem gibt es mittlerweile mehr Wissen darüber, dass Antidepressiva bei Jugendlichen gut wirken können, auch wenn sie offiziell zum Teil nicht für diese Altersgruppe zugelassen sind.
Dies wird nicht auf einem Anstieg psychischer Erkrankungen zurückgeführt, sondern auf eine Ausweitung der Indikationsstellung, unter anderem einer Anwendung von Arzneimitteln ausserhalb der genehmigten Indikation. Was ist damit gemeint?
Wenn zum Beispiel ein Antidepressivum, das beruhigend und schlafunterstützend wirkt, bei Schlafstörungen ohne Depression eingesetzt wird, dann nennt man das «off label» Verordnung, also eine Verwendung ausserhalb der zugelassenen Indikation. Oder wenn ein beruhigend wirkendes Antipsychotikum, das nur wenige Nebenwirkungen hat, als Schlafmittel verschrieben wird. Das kann sinnvoll sein, wenn dadurch ein Schlafmittel, das z.B. ein Abhängigkeitspotential hat, ersetzt wird. Oder wenn ein Antidepressivum bei chronischen Schmerzen zur Verbesserung der Schmerzverarbeitung und Unterstützung der Therapie eingesetzt wird. Insgesamt sollten solche Verordnungen immer gut abgewogen werden.
Die mit Abstand am häufigsten bezogenen Psychopharmaka sind Antidepressiva (zur Behandlung von Depressionen). 2020 waren es rund 197 Millionen definierte Tagesdosen, fünf Jahre zuvor waren es 192 Millionen. Worauf führen Sie dies zurück?
Einerseits sind Depressionen und Angststörungen, für die Antidepressiva ebenfalls zugelassen sind, die häufigsten psychischen Erkrankungen. Und hierbei ist in der Bevölkerung das Bewusstsein gestiegen, dass diese Erkrankungen behandelbar sind und dass Antidepressiva nicht gefährlich oder anderweitig negativ sind (reduziertes Stigma). Andererseits, wie bereits oben gesagt, werden Antidepressiva auch bei anderen Erkrankungen wie Schmerzerkrankungen und Schlafstörungen «off-label» eingesetzt, da sie dort gute Wirkungen zeigen und der Einsatz von Medikamenten mit grösserem Nebenwirkungspotential reduziert werden kann.
Anxiolytika (Mittel gegen Angststörungen) und Sedative (Beruhigungsmittel) werden nach den Antidepressiva am zweithäufigsten bezogen. Hier zeigt sich ein Rückgang von insgesamt 103,3 Millionen auf 95,6 Millionen im gleichen Zeitraum. Worauf denken Sie, ist das zurückzuführen?
Erfreulicherweise ist das Bewusstsein um die Probleme dieser Medikamente (Abhängigkeitsgefahr auch bei niedrigen Dosierungen bei längerer Einnahme) grösser geworden, und es gibt Medikamente unter anderem aus der Gruppe der niederpotenten Antipsychotika, die bei Schlafstörungen und Unruhe/Angst weniger Abhängigkeitspotential haben. Es hat hier also wahrscheinlich eine Verschiebung in eine andere Medikamentengruppe stattgefunden.
Die deutlichste Veränderung zwischen 2017 und 2022 lässt sich bei den ADHS-Medikamenten feststellen. Die Zunahme von 12,4 auf 15,2 Millionen war beachtlich. Ist ADHS oder die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung eigentlich nur bei Kindern zu finden?
Früher hat man gedacht, dass sich ADHS mit dem Erwachsenwerden «auswächst». Heute weiss man, dass auch im Erwachsenenalter ADHS-Symptome Schwierigkeiten im Alltag und auch Leiden verursachen können und damit behandelt werden sollten. Teilweise werden heute auch Erwachsene mit ADHS diagnostiziert, die als Kinder und Jugendliche nicht erkannt wurden, sei es weil ihr Umfeld kein Bewusstsein für die Problematik hatte oder vielleicht auch selbst ähnliche Symptome (Erblichkeit) hatte und es daher für normal hielt, sei es weil vor den 1990er/2000er Jahren ADHS viel seltener beziehungsweise viel zu selten diagnostiziert wurde, insbesondere bei Frauen. Zudem ist mittlerweile bekannt, dass auch eine längerfristige Behandlung nur wenige Nebenwirkungen verursacht und im Gegenteil zum Beispiel das Risiko von Verkehrs- und Arbeitsunfällen bei Erwachsenen mit ADHS reduziert. Damit lässt sich die Zunahme der Verordnungen vor allem auf vermehrte Diagnosen und konsequentere Behandlung zurückführen.
Es beziehen mehr Frauen Antidepressiva und Anxiolytika/Sedativa als Männer (rund 65 Prozent versus 35 Prozent). Worauf führen Sie dies zurück?
Sowohl Depressionen als auch Angststörungen sind bei Frauen häufiger als bei Männern (zwei- bis dreimal häufiger). Zudem suchen Frauen eher Hilfe bei psychischen Beschwerden, so dass hier zwei Faktoren in dieselbe Richtung die Verschreibungen steigern, zum Beispiel auch bei Schlafstörungen.
Die höchsten Kosten verursachten Antidepressiva gefolgt von den Anxiolytika/Sedativa. Wer verschreibt eigentlich diese Medikamente – nur Psychiater?
In dem OBSAN Bericht wird dargestellt, dass die Hälfte der Antidepressiva und 60% der Anxiolytika/Sedativa durch Hausärzte verschrieben wird und Psychiater nur eine deutlich geringere Menge (35% bzw. 20%). Antipsychotika (knapp unter 50%) und noch mehr ADHS-Medikamente (mehr als 55%) werden vorwiegend durch Psychiater und Kinder- und Jugendpsychiater verschrieben.
Ist es richtig, dass auch Hausärzte Psychopharmaka verschreiben. Sind sie überhaupt in der Lage dahingehende Diagnosen zu erstellen?
Teils – teils. Bei manchen Patienten besteht eine Dauerbehandlung mit bestimmten Medikamenten, die gut etabliert ist und nicht unbedingt eine intensive Behandlung erfordert und daher auch durch einen Hausarzt durchgeführt werden kann. Zudem ist es manchmal besser, wenn Patienten wenigstens vom Hausarzt behandelt werden, bei dem das Stigma geringer ist und der den Patienten schon länger kennt, als wenn er aus Angst vor dem Psychiater nicht behandelt wird. Psychopharmaka sollten allerdings eigentlich nicht alleine ohne ein Behandlungskonzept, das meist auch eine psychotherapeutische Behandlung einschliesst, verordnet werden. Dafür sind Psychiater und Kinder- und Jugendpsychiater die Fachärzte mit der grösseren Expertise.
Sollten Hausärzte ihre Patient*innen öfter zur Psychiaterin oder Psychiater schicken?
Spätestens wenn ein Psychopharmakon nach circa 6 Wochen nicht ausreichend gewirkt hat, sollten Patienten von einem Psychiater gesehen werden, um einerseits zu überprüfen, ob die Diagnose korrekt ist oder ob noch weitere psychische Probleme vorliegen, und andererseits die weitere Behandlung zu übernehmen und im Verlauf zu kontrollieren. Zudem sollten Patienten zum Psychiater geschickt werden, wenn psychotische Symptome, Selbst- oder Fremdgefährdung oder mehr als ein psychisches Problem vorliegt und wenn Patienten mehrere Psychopharmaka benötigen oder auch Medikamente für körperliche Erkrankungen einnehmen, da hier Wechselwirkungen auftreten können.
Zum Schluss noch diese Frage: Wie nehmen Sie den Patient*innen die Angst vor dem Gang zur Psychiaterin oder zum Psychiater?
Das ist eine gute Frage, da ich ja selbst Psychiaterin bin und die Patient*innen, wenn sie zu mir kommen, bereits diese Hürde überwunden haben. Generell ist es wichtig, dass die Bevölkerung über psychische Erkrankungen informiert wird, dass diese ernstgenommen und behandelt werden sollten. Und dass die Bevölkerung erlebt, dass Psychiater*inne] Ärzt*innen sind, die die Fachleute für psychische Erkrankungen sind und nicht entweder jeden «analysieren» oder «abstempeln» oder selbst eher «schräge Vögel» sind. Ausserdem ist Öffentlichkeitsarbeit wie auch dieses Interview hilfreich, um ein realistisches Bild der Psychiatrie, der Psychiater*innen und ihrer Behandlungsmöglichkeiten und auch von Patienten mit psychischen Erkrankungen darzustellen. Vielen Dank für diese Möglichkeit!
Das Interview hat Binci Heeb geführt.
Annette Brühl ist 1977 in Koblenz (Deutschland) geboren, 1996-2002 Medizinstudium an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, Promotion dort 2004 am Institut für Pharmakologie, 2003-2005 Assistenzärztin Neurologie in D-Ludwigsburg. Ab 2005 Ausbildung in Psychiatrie an der PUK Zürich in verschiedenen Bereichen, als Assistenz- und Oberärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinik für Alterspsychiatrie und Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie. Seit 2008 ist sie Lehrbeauftragte für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Zürich. 2010 Facharztprüfung für Psychiatrie und Psychotherapie, 2013 Habilitation an der Universität Zürich, 2013-2016 wissenschaftliche Tätigkeit als Postdoktorandin am Behavioural and Clinical Neuroscience Institute in Cambridge im Bereich Verhaltens- und klinische Neurowissenschaften. 2016 Rückkehr an die PUK Zürich als Stv. Chefärztin und Leiterin des Zentrums für Depressionen, Angststörungen und Psychotherapie. 2020 Berufung als Professorin für Affektive Störungen an der Universität Basel und Chefärztin an die UPK Basel, Leiterin des Zentrums für affektive, Stress- und Schlafstörungen und des Zentrums für Alterspsychiatrie.