Wer zahlt? Streit um Definition von Epidemie und Pandemie: Versicherungen zeigen sich zunehmend kulant
18. Juni 2020 | AktuellDer einflussreiche Wirteverband GastroSuisse analysierte Versicherungspolicen von 20 Mitgliedsbetrieben. Ein Trio von hochqualifizierten Anwälten sah sich daraufhin gezwungen exemplarisch drei Drückeberger unter den Versicherern auf ihre rechtlichen Verpflichtungen und Konsequenzen aufmerksam zu machen. Namentlich Axa, Helvetia und Generali weigerten sich Entschädigungen zu zahlen.
Am Freitag, 15. Mai wurde ein vom Ombudsmann der Privatversicherung Martin Lorenzon und der Suva gemeinsam in Auftrag gegebenes Gutachten publiziert. Erstellt von Prof. Walter Fellmann von SwissLegal Fellmann Rechtsanwälte AG. Dem Kassensturz lag die Untersuchung bereits seit dem 5. Mai vor und wurde schon damals auszugsweise in der Konsumentensendung des Schweizer Fernsehens zitiert. Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die missverständliche Definition zwischen Pandemie und Epidemie durch die WHO in der Schweiz keine rechtliche Auswirkung auf die Haftung der Versicherung hat. Prof. Fellmann wörtlich:
«Nach meiner Einschätzung liegt somit kein Ausschluss vor, der bei grundsätzlicher Deckung von Epidemien und Pandemien in bestimmter, unzweideutiger Fassung von der Versicherung ausschliessen würde. Nach Art. 33 VVG ist der Ausschluss daher nicht gültig».
Art 33 VVG: Umfang der Gefahr
Soweit dieses Gesetz nicht anders bestimmt, haftet der Versicherer für alle Ereignisse, welche die Merkmale der Gefahr, gegen deren Folgen Versicherung genommen wurde, an sich tragen, es sei denn, dass der Vertrag einzelne Ereignisse in bestimmter, unzweideutiger Fassung von der Versicherung ausschliesst.
Unterschied von Epidemie und Pandemie Im Roche Lexikon Medizin
Pandemie wird als «auf grosse Gebiete eines Landes oder Erdteils übergreifende Epidemie» definiert. Die (versicherte) Gefahr sei also die Epidemie, die, wenn sie sich ausbreitet, zur Pandemie wird, schreibt Prof. Fellmann in seinem Gutachten. Ferner sei nach dem Epidemiengesetz der Ausbruch einer übertragbaren Krankheit, welche aufgrund ihrer Ausbreitung die öffentliche Gesundheit in der Schweiz gefährde, also immer (nur) eine Epidemie.
Nach seiner Beurteilung liege das Problem, ob es sich bei der Pandemie wirklich um ein spezielles Risiko handle, welches sich von der versicherten Gefahr der Epidemie abgrenzen liesse, darin, dass eine Pandemie immer aus einer Epidemie entstehe und nicht umgekehrt.
Juristisch unbelegter Gastkommentar in der NZZ stützt die Versicherer
Der Versicherungsökonom Alexander Braun, Professor und Vizedirektor des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen hält hingegen mit einem Gastkommentar in der NZZ vom 11.5.2020 dagegen. So lautet seine These unter anderem, dass Pandemien in die Kategorie von Extremereignissen gehören, bei denen die Versicherbarkeit nicht mehr gegeben sei. Ferner sei die Unterscheidung zwischen Epidemie und Pandemie keine Spitzfindigkeit der Versicherer. Pandemien könnten weder lokal noch global versichert werden. Dazu sagt Prof. Braun: «Meine Darstellung in der NZZ basiert auf ökonomischen Überlegungen aus dem Bereich der Risikodiversifikation. Zu den juristischen Hintergründen kann ich mich als Ökonom nicht äussern. Darüber hinaus liegt mir weder das Gutachten von Herrn Fellmann noch der Text einzelner betroffener Policen vor».
SIBA drängt auf rasche Auszahlung
Der Schweizerische Versicherungs-Brokerverband (SIBA) zeigte sich unzufrieden über die fehlende Solidarität und Kompromissbereitschaft der in der Schweiz akkreditierten Versicherungen. In einer Medienmitteilung vom 8. Mai forderte er die Schweizer Versicherungsgesellschaften auf, vielen in ihrer Existenz bedrohten Unternehmen der Gastronomie und Hotellerie, substanzielle Lösungsansätze zu präsentieren. Da die Rechtslage in Bezugnahme auf das Rechtsgutachten von Ombudsmann Prof. Lorenzon nun klar sei, sollen die Versicherer jetzt unverzüglich sowie unkompliziert die versprochenen Leistungen auszahlen.
Eigendefinition der Epidemieversicherung durch Assekuranzen
Bei der Epidemieversicherung handelt es sich um Ereignisse, die begrenzte Kosten nach sich ziehen. Bei einem Gastrobetrieb könnte dies z.B. ein Salmonellenbefall, Schädlinge oder ein Norovirusausbruch sein. So liessen sich auch die tiefen Prämien erklären. Corona-Schäden stünden in keinem Verhältnis zu den bezahlten Prämien und würden zu Lasten des Versicherungskollektivs gehen.
Um das nicht versicherbare Pandemie-Risiko in der Schweizer Wirtschaft künftig besser abfedern zu können, unterstützt Axa derweil die Lancierung einer Poollösung in Form einer Public-private-Partnership PPP (Öffentlich private Partnerschaft ÖPP). Ein solches Konstrukt kennt die Schweiz bereits von einzelnen Versicherungen nicht versicherbarer Risiken wie dem Nuklearpool, oder dem Elementarschadenpool.
Poollösung: Des Pudels Kern?
Aus der Sicht von RMS Risk Management Service AG ist die Poollösung keine passende Antwort. Denn natürlich liessen sich auch Pandemien – siehe z.B. Erdbeben – einzeln versichern. Letztere treten erfahrungsgemäss ja bekanntlich ebenfalls äusserst selten auf. Die Prämien wären dementsprechend hoch. Pandemien könnten, siehe Ebola, auch regional sein. Die Kapazitäten der Gelder sind da, sonst könnten die unten erwähnten Versicherungen Coronaschäden auch nicht zahlen. Und schliesslich werden längst auch politische Risiken versichert. Bruno Kopp, Geschäftsführer von RMS, ist trotz oder gerade wegen der gegenwärtigen Diskussionen ziemlich sicher, dass die Versicherungen im eigenen Interesse schliesslich eine gütliche Lösung finden werden.
Helvetia, Generali und Axa agieren positiv
Während sich Basler Versicherung, esurance, Vaudoise und Mobiliar unverzüglich kooperativ gezeigt hatten für die durch Corona verursachten Schäden aufzukommen hat am 5. Mai auch Helvetia einen Vergleichsvorschlag präsentiert. Sie wird für die Hälfte der ungedeckten Kosten und des Gewinnausfalls der bei ihr gegen Epidemie (mit Pandemie-Ausschluss) versicherten Gastronomen aufkommen. Wenn diese auf den Deal eingehen, akzeptieren sie aber zugleich neue Versicherungsbedingungen.
Wie Generali an «thebroker» schreibt, lehnen sie aufgrund eines klaren Ausschlusses in ihrer Hygiene-Versicherung eine «Pandemie-Deckung» weiterhin ab. Sie sind trotzdem, angesichts der für sie alle neuen und aussergewöhnlichen Situation, im engen Kontakt mit ihren Versicherungsnehmenden und bieten Hand, für die vom Lockdown betroffenen Kundinnen und Kunden eine individuelle Lösung zu finden. Dies unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände deren Einzelfalls.
Axa beantwortet unsere Anfrage dahingehend, dass ihre Epidemieversicherung nie dafür gedacht war die finanziellen Folgen einer Pandemie zu tragen. Zweck ihrer Versicherung sei es, einzelne Betriebe vor den Folgen von Hygieneproblemen und eines örtlich begrenzten Ausbruchs eines Krankheitserregers zu schützen. Eine Epidemie sei gemäss Definition des BAG als lokal und zeitlich begrenztes Krankheitsgeschehen definiert und damit berechenbar. Eine Pandemie dagegen sei unbegrenzt und damit unberechenbar. Da Axa aber langwierige rechtliche Auseinandersetzungen, die durch die Corona-Pandemie hervorgerufen wurde, nicht als im Sinne ihrer Kundinnen und Kunden erachte, komme sie den betroffenen Gastrobetrieben mit einer Vergleichslösung auf individueller Basis pragmatisch entgegen.
Markt von Lloyd’s zahlt und entwickelt «wasserdichte» Lösung
Hervorzuheben ist, dass im Zusammenhang mit Covid-19 der Lloyd’s Markt sofort reagiert hat und voraussichtlich bis zu US $ 4.3 Milliarden an Kunden ausbezahlt haben wird. Er arbeitet zudem an einer neuen Lösung, welche als «Recover Re» bezeichnet wird. Diese Lösung soll nach einem Pandemieereignis («after the event») Schutz bieten und auf eine pandemiebedingte Erholung des Geschäfts (Firma) fokussiert sein.
Schwaches Licht am Ende des Tunnels?
Ein Ende des Streits zwischen Wirten und Versicherern könnte also in Sicht sein. Die GastroSuisse sagt: «Mehrere renommierte neutrale Gutachter und unabhängige Rechtsexperten sind mittlerweile zum klaren Schluss gelangen, dass bei Epidemie-Versicherungen für die vom Coronavirus verursachten Schäden eine Leistungspflicht besteht.» Es wurden intensive Verhandlungen mit mehreren Versicherungen aufgenommen, welche noch nicht abgeschlossen seien. «Kommt es nicht zu vernünftigen Lösungen, so wird es zwangsläufig zu Prozessen kommen. Man evaluiere ferner, welche branchenfreundliche Versicherungen den Mitgliedern künftig noch zu empfehlen wären.» Im schlimmsten Fall bliebe der Gang vors Bundesgericht.
Bleibt nur noch zu erwähnen, dass es selbstverständlich bei einer seriösen Schweizer Versicherung nicht an der Liquidität oder gar den nötigen Mitteln für die Schadensregulierung liegen darf oder gar kann.
Binci Heeb