Versicherungsvertragsabschluss – oder doch nicht?

11. November 2024 | Aktuell Allgemein Gastbeiträge
Conclusion of an insurance contract – or rather not? The new right of revocation of the policyholder leads to uncertainties which Dr. John Trachsel discusses.
Versicherungsvertragsabschluss – oder doch nicht? Das neue Widerrufsrecht zugunsten des Versicherungsnehmers führt zu Unsicherheiten, die von Dr. John Trachsel erörtert werden.

Das neue Widerrufsrecht zugunsten des Versicherungsnehmers führt zu einigen Unsicherheiten, die nachfolgend im Gastbeitrag von Rechtsanwalt Dr. John Trachsel erörtert werden.

Problemstellung

Im Vertragsrecht gilt seit alters her der Grundsatz pacta sunt servanda (dt. Verträge sind einzuhalten), welcher das Prinzip der Vertragstreue zum Ausdruck bringt. Zu einem gewissen Grad öffnet das VVG aber die Tür zum Schema trial and error. So wurde in das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) per 1. Januar 2022 ein allgemeines Widerrufsrecht zugunsten des Versicherungsnehmers aufgenommen.

Die neuen Bestimmungen aus Art. 2a und 2b des revidierten VVG sehen zusammengefasst vor, dass der Versicherungsnehmer seinen Antrag zum Abschluss des Vertrags oder die Erklärung zu dessen Annahme innert 14 Tagen schriftlich widerrufen kann. Ein solcher Widerruf bewirkt, dass der Antrag zum Vertragsabschluss oder die Annahmeerklärung des Versicherungsnehmers von Anfang an (ex tunc) unwirksam ist. Die Parteien müssen bereits empfangene Leistungen zurückerstatten (zum vollen Wortlaut von Art. 2a und 2b VVG vgl. den offiziellen Gesetzestext).

Eine viel diskutierte Problematik im Zusammenhang mit dem Widerrufsrecht ist das damit einhergehende Missbrauchspotential. So wäre es theoretisch denkbar, dass ein Versicherungsnehmer im Hinblick auf eine geplante Aktivität (z.B. Ferien) einen Versicherungsvertrag abschliesst, diesen aber nach unbeschädigtem Überstehen derselben innert der 14-tägigen Frist widerruft. Hätte sich hingegen das schädigende Ereignis verwirklicht, hätte der Versicherungsnehmer selbstverständlich den Vertrag nicht widerrufen.

Lösungsmöglichkeiten

Zumal das neue Widerrufsrecht grundsätzlich nicht einseitig zulasten des Versicherungsnehmers abgeändert werden darf (Art. 98 VVG), stellt sich sowohl für Versicherungsunternehmen als auch Versicherungsnehmer die Frage, welchen Spielraum dieses sogenannte «teilzwingende» Widerrufsrecht den Versicherungsunternehmen bietet, um dem Missbrauchspotential zu begegnen (im Falle von Kredit- oder Kautionsversicherungen, soweit es sich um Versicherungen von beruflichen oder gewerblichen Risiken handelt, bei Transportversicherungen und Versicherungen mit professionellen Versicherungsnehmern ist das Widerrufsrecht hingegen nicht teilzwingend ausgestaltet; Art. 98a VVG).

In ökonomischer Hinsicht mag der Gedanke naheliegend sein, dass das Versicherungsunternehmen infolge des Widerrufs vom Versicherungsnehmer eine Entschädigung fordert. Dem steht aber im Weg, dass das Widerrufsrecht von Gesetzes wegen entschädigungsfrei ist (Art. 2b Abs. 3 Satz 1 VVG) und ein pro rata-Prämienanspruch des Versicherungsunternehmens – im Unterschied zu anderen Rechtsordnungen – nicht vorgesehen ist. Zwar sieht das neue Widerrufsrecht vor, dass die Parteien bereits empfangene Leistungen zurückzuerstatten haben (Art. 2b Abs. 2 VVG). Der Fokus dieser Bestimmung liegt indes auf der Rückerstattung der Prämie. Der bloss abstrakt genossene Versicherungsschutz ist gemäss der Lehre keine rückerstattungsfähige Leistung nach dem Wortlaut des Gesetzes. Nur Kosten für besondere Abklärungen, welche das Versicherungsunternehmen in guten Treuen im Hinblick auf den Vertragsabschluss vorgenommen hat, sind nach Massgabe der Billigkeit erstattungsfähig (Art. 2b Abs. 3 Satz 2 VVG). Zu denken ist etwa an kostspielige ärztliche oder technische Untersuchungen. Im Grundsatz ist daher davon auszugehen, dass das Versicherungsunternehmen vom Versicherungsnehmer, nachdem dieser vom Widerrufsrecht Gebrauch gemacht hat, keine Entschädigung, Konventionalstrafe oder dergleichen verlangen darf.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass das Versicherungsunternehmen die Laufzeit des Versicherungsvertrags auf weniger als einen Monat begrenzt. Dann entfällt das Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers (Art. 2a Abs. 4 VVG). Gerade bei kurzfristigen Verträgen mag dies von Interesse sein. So kann verhindert werden, dass ein Versicherungsnehmer eine Art «Instant-Versicherung» im Hinblick auf ein unmittelbar bevorstehendes Risiko gratis abschliesst, indem er sie sogleich nach nicht verwirklichtem Risiko widerruft. In vielen Fällen wird aber ein längerfristiger Versicherungsvertrag gewünscht sein. Dann wird sich unweigerlich die Frage stellen, inwiefern die Option einer automatischen Verlängerung des zunächst auf weniger als einen Monat befristeten Versicherungsvertrags den teilzwingenden Charakter des Widerrufsrechts (s.o.) verletzen würde. In der Lehre wird davon nicht ausgegangen. Stattdessen beginne das Widerrufsrecht ab erreichter Monatslaufzeit. Es wird sich weisen müssen, ob diese Ansicht vor Gerichten standhält bzw. wie eine derartige Prolongationsklausel formuliert werden muss, damit dies sichergestellt ist. Auch fragt es sich, was die Unwirksamkeit «von Anfang an» gemäss Art. 2b Abs. 1 VVG bedeutet, wenn der Widerruf nach der Prolongation ausgesprochen wird: Tritt die Unwirksamkeit ab Anfang der Vertragsbeziehung überhaupt oder ab erreichter Monatslaufzeit (Art. 2a Abs. 4 VVG) ein? Geht man vom Aufleben der Widerrufsmöglichkeit eines zuerst auf weniger als einen Monat befristeten Versicherungsvertrags ab erreichter Monatslaufzeit aus, ist es meines Erachtens nur konsequent, auch die Widerrufswirkungen erst ab erreichter Monatslaufzeit eintreten zu lassen.

Als weitere Option ist denkbar, den Beginn der Versicherungsdeckung auf einen Zeitpunkt zu vereinbaren, ab welchem die gesetzliche Widerrufsfrist schon abgelaufen ist. Gerade in Konstellationen, in denen der Versicherungsnehmer nicht auf eine «Instant-Versicherung» angewiesen ist, erscheint diese Option als interessant. Eine solche Vorgehensweise erscheint aus meiner Sicht als gesetzeskonform, denn der Gesetzgeber hat den Beginn der Widerrufsfrist unabhängig davon ausgestaltet, ob der Versicherungsvertrag schon zustande gekommen ist oder nicht (Art. 2a Abs. 2 VVG). Wenn aber die Widerrufsmöglichkeit unabhängig vom Zustandekommen des Vertrags besteht, dann muss sie erst recht unabhängig vom Beginn des Deckungsschutzes sein. Es sind aber auch gegenteilige Argumentationen denkbar.

Zusammenfassung

Es zeigt sich, dass das Widerrufsrecht dem Versicherungsnehmer zwar zusätzlichen Spielraum verschafft, aber auch ein Missbrauchspotential birgt. Letzterem darf das Versicherungsunternehmen grundsätzlich nicht dadurch begegnen, dass es dem Versicherungsnehmer eine Entschädigungspflicht infolge des Widerrufs auferlegt. Bei weniger als auf einen Monat befristeten Versicherungsverträgen entfällt indes das Widerrufsrecht. Werden solche Verträge mit einer Prolongationsklausel versehen, beginnt die Widerrufsfrist wohl ab Erreichen der Mindestlaufzeit von einem Monat. Sodann erscheint es meines Erachtens als zulässig, die Deckungsperiode auf die Zeit nach abgelaufener gesetzlicher Widerrufsfrist zu verlagern.

Dr. John Trachsel

RA Dr. John Trachsel: Nach dem Abschluss des Master of Law im Jahr 2016 an der Universität Zürich doktorierte John Trachsel 2019 an derselben alma mater mit einer haftpflichtrechtlichen Dissertation. Seit John Trachsel ist seit 2017 in der juristischen Praxis tätig. Nach Stationen in der Justiz (Bezirks- und Obergericht Zürich) und Advokatur (Anwalt in einer Wirtschaftskanzlei) praktiziert er seit 2024 von Zürich aus als selbständiger Anwalt. Dem Haftpflicht- und Privatversicherungsrecht bleibt er nicht nur in der Praxis verbunden, sondern nebenberuflich auch im Rahmen seines Lehrauftrags zum Thema «Schaden» an der Universität Zürich.

Der vorliegende Beitrag stellt keinen Ersatz für eine Rechtsberatung dar, sondern ist Teil eines freien juristischen Meinungsdiskurses. Dementsprechend wird jegliche Haftung für die im Beitrag wiedergegebenen Meinungen abgelehnt.

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