Zukunftsforschung: Blick in die Glaskugel oder Wissenschaft?

19. Juni 2023 | Aktuell Allgemein Interviews
Zukunftsforschung: Zukunftsforscher Georges T. Roos von ROOS Trends & Futures gibt interessante Einblicke in die Zukunft.

Zukunftsforschung: Zukunftsforscher Georges T. Roos von ROOS Trends & Futures gibt interessante Einblicke in die Zukunft.

Das Versicherungsbroker-Forum 2023 der Finanz und Wirtschaft wagte mit dem Zukunftsforscher Georges T. Roos einen wissenswerten Blick in die Zukunft. Dieser prognostiziert unter anderem eine Verdoppelung der Bevölkerung von Afrika und Biologie als «the next big thing».

In diesem ausführlichen Interview spricht thebroker mit Georges T. Roos von ROOS Trends & Futures darüber, was uns die Zukunft bringen wird.

Ist Zukunftsforschung eine Wissenschaft oder schauen Sie in die Glaskugel?

Die wissenschaftliche Zukunftsforschung stützt sich auf Methoden, um sich mit Fragen der Zukunft auseinanderzusetzen. Eine präzise Prognose ist selbstredend nicht möglich. Wir sprechen daher lieber von Zukünften, also mehreren möglichen Entwicklungen. Diesen Möglichkeitsraum zu erkennen, ist eine der zentralen Leistungen der Zukunftsforschung. Mit Wahrsagerei hat sie überhaupt nichts zu tun.

Die Zukunft ist doch ungenau. Lassen sich dennoch gewisse Dinge antizipieren?

Wenn wir verstehen, welche Kräfte eine Entwicklung antreiben, lassen sich diese beschreiben und auch abschätzen, wie sie die Welt verändern – zwar nicht mit hundertprozentiger Gewissheit, aber mit einer grossen Wahrscheinlichkeit.

Worauf stützen Sie sich, wenn Sie über Zukunftsthemen sprechen?

Eine gute Möglichkeit, die relativ gut vorhersehbaren Veränderungen zu erfassen, besteht in der Analyse von Megatrends.

Was sind Megatrends?

Mit Megatrends meinen wir übergeordnete Entwicklungen, wenn Sie wollen: Die grossen Bögen. Es müssen drei Kriterien erfüllt sein, damit die Zukunftsforschung von einem Megatrend spricht: Erstens muss es sich um langfristige Entwicklungen handeln – das unterscheidet Megatrends von Trends, Moden und kurzen Hypes. Zweitens müssen sie global wirken – es gibt keinen Megatrend, der nur an einem Ort zu spüren ist. Und drittens wirken Megatrends in alle Bereiche hinein: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur. Das macht sie gut anwendbar für jedes Unternehmen in allen Branchen, aber ebenso für Regierungen oder andere Institutionen.

Anlässlich des Versicherungsbroker-Forums sprachen Sie von vier Transformationen, auf welche man sich verlässlich einstellen müsse. Welche Transformationen sind gemeint?

Ich beschreibe sechzehn Megatrends. Wenn ich davon noch einmal einen Schritt zurücktrete und sie noch mehr aus der Vogelperspektive betrachte, sehe ich fünf Transformationen, welche unsere Leben und Wirtschaften in den nächsten zwanzig Jahren beeinflussen werden. Transformationen nenne ich sie deshalb, weil sie wie die zugrundeliegenden Megatrends in alle Bereiche hineinwirken und diese teilweise fundamental verändern werden. Darunter gibt es solche, die in aller Munde sind, die digitale Transformation und die ökologische Transformation; letztere ist angetrieben vom Bestreben, den Klimawandel zu begrenzen. Die dritte grosse Transformation betrifft unsere wirtschaftliche und politische Weltordnung: Der Bedeutungsgewinn Chinas, der Bedeutungsverlust Europas, sowie die potenzielle hochbrisante Entwicklung Afrikas. Es geht hier um das zukünftige geopolitische Kräfteverhältnis. Die vierte Transformation wird meiner Ansicht nach unterschätzt: Die demografische Transformation. Weltweit wächst die Bevölkerung, zugleich altert sie. Die fünfte Transformation nenne ich Bio-Transformation: Auf Grundlage der biologischen Forschung ist eine Welle von Veränderungen zu erwarten, die der digitalen Transformation in nichts nachstehen könnte.

Eine Ihrer Thesen lautet, dass die Wirtschaft im Kreis laufen wird. Führen Sie dies etwas aus.

Unser Wirtschaften basiert einerseits auf Öl, Gas und Kohle und andererseits auf der Nutzung natürlicher Ressourcen. Im Pariser Abkommen haben sich die Länder verpflichtet, den CO2-Ausstoss auf netto Null zu reduzieren. Das tangiert direkt auch unser Wirtschaftssystem: Einfach gesagt: Wir entnehmen der Natur Rohstoffe, verarbeiten sie zu Produkten, nach der Nutzung wird daraus zu 80 Prozent Abfall. Die Kreislaufwirtschaft ist ein Gegenmodell zu der bisherigen linearen Wirtschaft. Wir müssen nicht nur den Ausstoss von Treibhausgasen stoppen, sondern auch den Einsatz von Rohmaterialien minimieren, die Lebensdauer der Produkte erhöhen und die Reststoffe wiederverwenden. Die Ressourcen vollständig im Kreislauf zu halten, geht zwar nicht, aber wir müssen uns diesem Ideal deutlich annähern.

Sie sprechen auch die demografische Transformation an. Ihre zweite These lautet, dass sich Afrikas Bevölkerung verdoppeln wird. Bis wann prognostizieren Sie diese Zunahme?

Ich schicke voraus: Das sind nicht meine Prognosen, sondern die Szenarien der Vereinten Nationen. Für Afrika gehen sie davon aus, dass sich die Bevölkerung bis 2050 verdoppeln wird. Diese Szenarien beruhen hauptsächlich auf Annahmen zur Geburtenrate und der Lebenserwartung. Die Lebenserwartung steigt auch in Afrika deutlich an. Ausserdem hat die – im Vergleich zu uns – extrem junge Bevölkerung mit vielen Frauen im gebärfähigen Alter auch eine hohe Geburtenrate. Afrika nimmt eine Schlüsselstellung in der demografischen Transformation ein: Wenn Afrika eine positive soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung hat, wird dieser Kontinent zu einem potenten Hotspot der globalen Welt von morgen. Wenn nicht, wird die ganze Welt in die Herausforderungen hineingezogen werden, sei es durch Migrationsströme oder durch den Beitrag gegen die humanitären Krisen.

Wie sieht es mit den anderen Kontinenten aus?

Alle Kontinente dürften wachsen mit einer wichtigen Ausnahme: Für Europa rechnen die Demografen mit einem Bevölkerungsrückgang. Das betrifft nicht alle Länder. Die Schweiz, Frankreich und Skandinavien dürften weiterwachsen, aber Spanien, Italien und vor allem die osteuropäischen Länder werden wahrscheinlich schrumpfen. In der Summe ergibt dies einen Rückgang der europäischen Bevölkerung bis im Jahr 2050 im Vergleich zu heute. Dazu kommt, dass in Europa in zwei oder drei Jahrzehnten ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein wird. Dies ist eine fundamental neue Situation, die es so in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat.

Nun kann die Weltbevölkerung ja nicht stetig zunehmen. Kann man sagen, wann, von welcher Zahl und um wie viele Menschen sie wieder abnehmen wird?

Die Bevölkerungsexpertinnen und -experten der UNO rechnen damit, dass die Weltbevölkerung noch bis ins Jahr 2084 zunehmen wird, wenn auch verlangsamt, und bei ungefähr 10.4 Milliarden Menschen den Peak erreichen wird. Dann, so nehmen sie an, hört das Wachstum auf. Der wichtigste Grund ist die Annahme, dass die Anzahl Kinder pro Frau zurückgehen wird – auf 1.85 Kinder. Wenn diese Zahl unter zwei ist, wächst die Bevölkerung nicht weiter, weil es ja zwei Kinder braucht, um die Eltern zu ersetzen. Da aber die Lebenserwartung ansteigen wird, verlangsamt sich das Ende des Wachstums. Es braucht mehrere Generationen, bis der «Dampfer Demografie» zum Stillstand kommt. Mit der Zeit aber dürfte die Wirkung abnehmender Fertilität enorm sein: Verhält sich die Geburtenrate so, wie angenommen, wären wir in 300 Jahren wieder weniger als drei Milliarden Menschen auf dem Planet Erde.

Die dritte These: KI (ChatGPT, Metaverse, Blockchain, Quantencomputing) wird in den nächsten 10 – 20 Jahre enorme Veränderungen bedeuten. Können Sie das etwas konkretisieren?

Bedenken Sie, dass die digitale Transformation der vergangenen 25 Jahre einschneidende Veränderungen in alle Fasern des Lebens und Wirtschaftens gebracht hat: Wir daten anders, wir kaufen anders ein, wir organisieren unser Leben anders, seit wir die Digitalisierung haben. Kaum jemand kann heute ohne sein Smartphone leben, dabei ist dieses Gerät gerade mal 15 Jahre alt. Warum gehe ich davon aus, dass die digitale Transformation der nächsten 25 Jahre noch tiefgreifendere Folgen haben könnte? Weil die Technologie immer besser wird und schon viele Science Fiction-Vorstellungen alt aussehen lässt. Versuchen wir mal nur die Künstliche Intelligenz und ChatGTP in die nächsten zwei Jahrzehnte zu projizieren? Was wird sie dann alles können?

Viertens sagen Sie, dass «the next big thing» aus der Biologie stammen wird. Woran denken Sie dabei?

In der Biologie tut sich Bahnbrechendes. Die wissenschaftlichen Fortschritte erlauben es nun, dass wir nicht nur die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen beeinflussen und verändern können, sondern dass wir künstlich lebende Zellen erzeugen können. Was abstrakt klingt, verspricht in vielen Bereichen phänomenale Prozeduren: Wahrscheinlich werden wir in den nächsten zwanzig Jahren bislang unheilbare Erbkrankheiten heilen, wahrscheinlich können wir Saatgut züchten, welches an den Klimawandel angepasst ist, wahrscheinlich können wir lebendige Fabriken bauen, die uns Rohmaterialien, Energie oder Baustoffe liefern, ohne auf das Rohöl als bisherigen Ausgangsstoff zurückgreifen zu müssen. Wahrscheinlich werden wir DNA als ewig haltbares Speichermedium für digitale Daten haben, und, und, und… Die Bio-Transformation scheint mir das nächste grosse Ding zu werden.

Was bedeutet die demographische Transformation für uns in der Schweiz genau?

Ein Viertel der Bevölkerung wird 2040 65 Jahre oder älter sein. Die Anzahl der über 80-jährigen Menschen wird sich verdoppeln. Unser Bevölkerungswachstum – erwartet wird die 10 Millionen–Schweiz in etwa zwanzig Jahren – findet fast ausschliesslich im Segment der älteren Bevölkerung statt.

Diese wird auch in der Altersvorsorge, beispielsweise hinsichtlich des Rentenalters, tiefgreifende Konsequenzen haben. Wie hoch sollte das Rentenalter künftig sein?

Das ist eine Frage der Gerechtigkeit: 2040 wird es für eine Person im Rentenalter nur noch zwei Personen im erwerbsfähigen Alter geben. Die Babyboomer-Generation geht nun massenweise in Rente. Wer soll wie viel an die steigenden Kosten der Altersvorsorge leisten? Ich persönlich denke, dass alle Generationen einen Teil davon übernehmen sollten – und das bedeutet für mich und meine Generation, dass wir ein, zwei Jahre länger arbeiten sollten.

Weshalb sieht eine Mehrzahl der Menschen eigentlich negativ in die Zukunft?

Interessanterweise sehen viele die persönliche Zukunft recht positiv, die generelle Zukunft aber eher negativ. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben damit zu tun, dass unser Geist nicht sehr gut in der Abschätzung der modernen Risiken ist. Dazu kommt, dass wir mit negativen Nachrichten überschüttet werden. Man weiss aus der psychologischen Forschung, dass die Häufigkeit von Informationen, die uns erreichen, einen Einfluss darauf hat, wie wir diese Dinge sehen. Wenn wir viele negative Informationen kriegen, erwarten wir, dass das Negative immer mehr überhandnimmt. Für die Zukunftsgestaltung aber brauchen wir auch eine gewisse Zuversicht: Zuversicht, dass wir etwas bewirken können, dass wir die Zukunft gestalten können. 

Das Interview hat Binci Heeb geführt.

Georges T. Roos (1963) beschäftigt sich professionell seit mehr als zwanzig Jahren mit den strategischen Zukunftsherausforderungen von Unternehmen und Organisationen. Er ist als Zukunftsforscher ein gefragter Vortragsredner zu disruptiven Szenarien, Megatrends, Wertewandel und strategischer Zukunftsfitness. Er ist Gründer und Leiter des privaten Zukunfts-Think-Tanks ROOS Trends&Futures. Überdies war er Gründer und Direktor der European Futurists Conference Lucerne und ist Co-Präsident von swissfuture – Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung. Er hat an der Universität Zürich das Lizentiat phil. I erworben, war 1997 bis Ende 1999 Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts.

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